Geschichte der Abteilung
Das musikwissenschaftliche Seminar der Universität Bonn wurde 1919 von Ludwig Schiedermair (1911 Dozent, 1915 Extraordinarius, 1920 Ordinarius) gegründet, fügte sich bereits damals aber in eine beinahe einhundertjährige Tradition der Musikwissenschaft an der Bonner Universität ein. An der jungen Universität (gegründet 1818 im Zuge der preußischen Universitätsreform) wurde mit Heinrich Carl Breidenstein 1822 ein Musikdirektor eingestellt, der ab 1823 musikwissenschaftliche Vorlesungen anbot und 1826 die erste außerordentliche Professur im deutschsprachigen Bereich erhielt. Auf Breidensteins Initiative ging die Errichtung des Bonner Beethoven-Denkmals 1845 und die Etablierung der Bonner Beethoven-Feste zurück.
1854 bis 1869 lehrte an der Universität als Ordinarius für Klassische Philologie und Archäologie der Mozart-Biograph Otto Jahn (zu dessen Studenten seit 1864/65 der junge Friedrich Nietzsche gehörte). In der Beethovenforschung arbeiteten als Privatgelehrte in Bonn zur gleichen Zeit Hermann Deiters und später Erich Prieger. Nach kurzer Tätigkeit von Arnold Mendelssohn (1880 bis 1883) übernahm der städtische Musikdirektor Leonhard Wolff, der mit Johannes Brahms und Joseph Joachim gut bekannt war, den Posten des Universitätsmusikdirektors (1884 bis 1915).
Nach der Gründung des Bonner Beethoven-Hauses im Jahr 1889, an der Wolff beteiligt war, und der Gründung eines eigenständigen Seminars, die an die Gründung solcher Institute in Berlin (1905) und Leipzig (1908) und München (1911) anknüpfte, wurden mit der Einrichtung des Bonner Beethoven-Archivs 1927 die musikwissenschaftlichen Institutionen der Stadt personell zusammengeführt. Ludwig Schiedermair war bis zu seinem Ausscheiden aus dem Universitätsdienst im Jahr 1948 Ordinarius für Musikwissenschaft an der Universität, Vorsitzender des Vereinsvorstands des Beethovenhauses und Leiter des Beethoven-Archivs. Diese Verknüpfung übernahmen Schiedermairs Nachfolger Joseph Schmidt-Görg (1948 bis 1965) und Günther Massenkeil (1966 bis 1991, am Beethoven-Haus 1972 bis 1974). Erst 1976 wurde für das Beethoven-Archiv eine eigene Leitungsposition etabliert. Wichtige Editionsprojekte des Bonner Beethoven-Hauses wie die neue Gesamtausgabe (seit 1961) und die Edition der Skizzenbücher gehen aber auf die Zeit der engen Zusammenarbeit zurück.
Schiedermair, dessen Schriften und Korrespondenz vor und nach 1933 deutschnationale und antisemitische Haltungen erkennen lassen, fiel es in der Zeit des Nationalsozialismus nicht schwer, sich wissenschaftlich und institutionenpolitisch an die Staatsideologie anzupassen, auch wenn er – trotz Beitritt zur NSDAP 1937 – wohl kein überzeugter Nationalsozialist war (vgl. Bormann 2016). Wie in vielen vergleichbaren Fällen in der deutschen Musikwissenschaft standen die Kriegsniederlage und die Phase der Entnazifizierung einer personell und inhaltlich weitgehend bruchlosen Fortsetzung der Arbeit nach 1945 nicht im Wege. Leo Schrade, der sich 1932 nach Bonn umhabilitiert hatte, wurde 1937 freilich wegen „jüdischer Versippung“ entlassen und musste seine Karriere im amerikanischen Exil fortsetzen, wurde dort an der Yale University Gastprofessor und nach dem Krieg schließlich ordentlicher Professor.
1948 wurde Joseph Schmidt-Görg, Schiedermairs Assistent im musikwissenschaftlichen Seminar und im Beethoven-Archiv, auf den Lehrstuhl für Musikwissenschaft berufen. Nach Schmidt-Görgs Emeritierung 1965 folgten auf dem Lehrstuhl für Musikwissenschaft Günther Massenkeil (1966 bis 1991) und Erik Fischer (1992 bis 2014). Das Seminar war bis zu dessen Umzug nach Karlsruhe über das Kuratorium an der Arbeit des 1947 in Bonn gegründeten Max-Reger-Instituts beteiligt. Ein wichtiges Ereignis in der Amtszeit Massenkeils war 1970 die Durchführung des internationalen Kongresses der Gesellschaft für Musikforschung.
Prägende Figuren und Professoren neben den Lehrstuhlinhabern waren im Zeitraum seit der Bildungsreform der 70er Jahre: Emil Platen, der 1953 das Collegium Musicum gegründet hatte und seit 1963 als Akademischer Musikdirektor (seit 1971 auch als Honorarprofessor) wirkte; Martin Vogel, Professor mit Schwerpunkt systematische Musikwissenschaft 1965 bis 1987; Siegfried Kross, Professor von 1970 bis 1995; Wolfram Steinbeck, Professor für Musikwissenschaft von 1988 bis 2001; Renate Groth, Professorin für Musikwissenschaft von 1996 bis 2003; sowie Anno Mungen, 2005 bis 2006 Professor für Musikwissenschaft, und Bettina Schlüter, Professorin für Musikwissenschaft von 2008 bis 2013.
Inhaltlich neue Akzente wurden im musikwissenschaftlichen Seminar einerseits im Zuge der Bologna-Reformen gesetzt, andererseits im Zuge seiner Integration als Abteilung in das 1921 gegründete Institut für Kommunikationsforschung und Phonetik (an dem Werner Meyer-Eppler wesentlich zur Entstehung und Entwicklung der elektronischen Musik beitrug), später umbenannt in Institut für Kommunikationswissenschaften, seit 2010 Institut für Sprach-, Medien- und Musikwissenschaft. So wird seit 2012 bis heute der interdisziplinär ausgerichtete Bachelorstudiengang „Musikwissenschaft/Sound Studies“ angeboten, von 2007 bis 2012 gab es zusätzlich den Masterstudiengang „Sound Studies“.
Nach einer längeren, durch Streichung und Vertretung von Professuren sowie durch häufigen Personalwechsel geprägten Periode befindet sich die Abteilung nach der Wiederbesetzung der Professur für Musikwissenschaft mit Tobias Janz (Oktober 2017) und der Professur Musikwissenschaft/Sound Studies mit Jens Gerrit Papenburg (April 2019) in einer Phase des Neuaufbaus und der inhaltlichen Neuausrichtung.
Im Jahr seines 100-jährigen Bestehens bietet die Abteilung für Musikwissenschaft/Sound Studies eine Musikwissenschaft an, in der sich ein traditionell musikgeschichtliches Profil mit einem besonderen Interesse an Musik- und Klangkulturen in modernen Gesellschaften (in globalem Maßstab) bis in die unmittelbare Gegenwart verbindet. Die von der Abteilung angebotenen Studiengänge begegnen dem heute unüberschaubar pluralen Gegenstandsbereich „Musik" nicht wie andernorts mit der traditionellen Aufteilung in Teilfächer (Historische und Systematische Musikwissenschaft, Musikethnologie, Popmusikforschung), sondern mit einem integrativen Ansatz, der die „Sound Studies" miteinschließt. Besondere Schwerpunkte liegen auf der europäischen Musikgeschichte um und seit 1800 sowie der Musik der Gegenwart, auf musikphilosophischen und musiksoziologischen Forschungsansätzen, der Medien- und Technikgeschichte der Musik, der Geschichte populärer Musikformen und der (musiktheoretischen und kulturwissenschaftlichen) Klangforschung im Sinne der Sound Studies.
Seit dem Wintersemester 2019/20 ist neben dem Bachelorteilstudiengang "Musikwissenschaft/Sound Studies" auch wieder ein konsekutiver Masterstudiengang „Musik- und Klangkulturen der Moderne“ studierbar. Und: Vom 28. September bis zum 1. Oktober 2021 richtete die Abteilung in Zusammenarbeit mit dem Beethoven-Haus/Beethoven-Archiv den XVII. Internationalen Kongress der Gesellschaft für Musikforschung (GfM) "Musikwissenschaft nach Beethoven" mit über 300 Beiträgen und rund 500 Besucher*innen in Bonn aus.
(Stand: November 2021)